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... nicht einfach nur Lieder, sondern Ideen

"Wer verstehen wollte, wusste genau, was gemeint war..." (Kodi, geb. 1970, Erfurt)

Man schrieb das Jahr 1986 und ich war 16 Jahre alt, als ich Rios Lieder - genauer gesagt, Scherben-Songs - kennenlernte. Kurioserweise war das bei der Geburtstagsfeier meiner Oma. Mein Onkel bewahrte in ihrer Wohnung noch seine Tonbandsammlung auf, und die entdeckte ich an diesem Tag. Dabei war ein Band mit der Aufschrift: TSS Keine Macht für Niemand. Schon der Titel weckte mein Interesse. Als ich das Band gehört hatte, war ich Scherben-Fan. Die Texte begeisterten mich. Obwohl unter völlig anderen gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden, spiegelten sie zu einem großen Teil Sehnsüchte, Hoffnungen und Gedanken wider, die mich damals bewegten.

ORWO Bald darauf war ich im Besitz einiger ORWO-Kassetten mit Überspielungen der ersten Scherben LP`s (ORWO war die Firma, die in der DDR Magnetbänder herstellte). Auf legalem Weg war an Scherben-Platten nicht heranzukommen. Und auch Überspielungen waren in erträglicher Qualität schwierig zu beschaffen. Entsprechend begehrt waren sie. Verboten war das Abspielen und Hören von Scherben- und Rio-Songs zwar nicht direkt, trotzdem hatte es immer auch etwas Subversives und den Reiz des Verbotenen. Ganz klar, daß Passagen wie "Wir sind geboren, um frei zu sein..." von den Sicherheitsorganen der DDR nicht gern gehört wurden.

Ich denke, es gab eine "ost"-spezifische Besonderheit im Umgang mit Rio und den Scherben. Einige Musikgruppen, sie erwarben in der sogenannten Szene bald einen Kultstatus, hatten auch Scherben-Titel in ihrem Repertoire, womit sie sich zwangsläufig am Rande der Legalität bewegten. Dabei wurden die Texte auch leicht abgewandelt. Das wohl beste Beispiel - "Wir sind geboren, um frei zu sein, wir sind 17 Millionen, doch wir sind nicht allein" - hatte natürlich für die betreffende Band ein Auftrittsverbot zur Folge. Kein Weg war zu weit und kein Dorfsaal zu abgelegen, um nicht zum betreffenden Auftrittsort zu gelangen. Häufig waren die Leute das ganze Wochenende unterwegs, meist war man ja Bus und Bahn angewiesen. Man bewegte sich immer am Rande des "Machbaren" und versuchte, die Opposition so offen wie möglich auszudrücken. Gleichzeitig durften aber die immer anwesenden "Gummiohren" der Staatssicherheit keinen Argwohn schöpfen. Viele Songs der Scherben und von Rio waren dazu geeignet: Die "Botschaften" waren versteckt und für jemanden, der nicht so fühlte und dachte, oft nicht verständlich. Was sollte man sich schon denken bei einer Textzeile wie "Ich hab' geträumt, der Winter wär' vorbei..."??? Wer verstehen wollte, wußte genau, was gemeint war. Es herrschte so etwas wie eine stille Übereinkunft, aus der die "dienstlich" anwesenden Personen ausgeschlossen blieben. Man wußte größtenteils, was der andere dachte. Über viele Dinge mußte gar nicht gesprochen werden, die standen einfach fest. Allein die Anwesenheit bei den Konzerten war eine gewisse Opposition zum Staat, wenn auch eine von offizieller Seite aus in bestimmtem Rahmen geduldete (aus Unwissenheit? mit Absicht?). Scherben-Songs habe ich immer auch als Opposition gegen das System empfunden. Ich denke, Rios Texte enthielten weder marxistische, noch maoistische oder was auch immer für eine Ideologie, sondern einfach Träume. Träume von der Möglichkeit einer besseren, gerechteren Welt jenseits der beiden damals existierenden Gesellschaftsformen.

Im November 1989 traf anläßlich einer Fete bei einem Freund zum ersten Mal das in unserem Bekanntenkreis berühmt-berüchtigte Trio mm/Wanni/Kodi bewußt als Scherben-Enthusiasten aufeinander. Gefeiert wurde Kodis Abschiedsparty (er mußte zur damaligen NVA). Mit fortschreitender Dauer des Abends - besser gesagt der Nacht - verabschiedeten sich immer mehr Leute, und nachdem es auch der Wohnungsbesitzer vorgezogen hatte, zu Bett zu gehen, wurde irgendwann die Scherben-Kassette eingelegt. Es paßte einfach alles zusammen: die Stimmung, die im November 1989 in der DDR herrschte, die kalte neblige Novembernacht, und dazu Rios Stimme: "Land in Sicht - singt der Wind in mein Herz..." Für uns waren das damals nicht einfach nur Lieder, sondern Ideen, in die man seine eigenen Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft hineinprojizieren konnte. Überhaupt hatte ich in der sogenannten "Wendezeit wohl die emotional tiefsten Erlebnisse mit Scherben- und Rio-Lieder. Aus der grundsätzlichen Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung war unversehens Wirklichkeit geworden. In meinen eigenen Vorstellungen über eine Alternative zur alten Bundesrepublik spielten gerade damals Rios Texte eine nicht unbedeutende Rolle. Überhaupt waren Rios Lieder ständige Begleiter: Immer ließ sich eine Verbindung finden zwischen alltäglichen Begebenheiten und Textstellen in Rios Songs.

Politik ist Boese, aber ding ding Im April 1994 hatten wir das Glück, Rio in Erfurt bei einer Lesung aus seinem Buch zu erleben. Auffallend viele der Anwesenden reduzierten ihn dort auf den '68er Revolutionär und auf "Macht kaputt, was Euch kaputt macht". Immer wieder warf man ihm auf aggressive Art vor, ein Verräter an seinen Idealen zu sein. Die eigentliche Entwicklung Rios wurde dabei entweder verkannt oder nicht zur Kenntnis genommen - aus geistiger Bequemlichkeit oder um ein bestimmtes Schubladendenken nicht aufgeben zu müssen. Daher rührte wohl Rios eher distanziertes Verhältnis zu seinem Publikum an diesem Abend - wer sieht sich schon gern ständig in die Verteidigerrolle gedrängt...

Dabei ist das Erstaunliche an Rio doch gerade, daß er immer ehrlich geblieben ist. Seine Texte haben an geistiger Tiefe eher noch zugenommen. Aber das ist nur für Leute verständlich, die sich intensiv mit Texten befassen. Die Mehrheit der Medien und auch der sogenannten Fans hat sich mit der späteren künstlerischen Entwicklung von Rio einfach nicht auseinandergesetzt, vielleicht um liebgewonnene Klischees nicht revidieren zu müssen.


mm
letzte Änderung: 04.08.2001, marko[at]netz-meister[punkt]de